Widerfahrnis by Bodo Kirchhoff

Widerfahrnis by Bodo Kirchhoff

Autor:Bodo Kirchhoff [Kirchhoff, Bodo]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Novelle
Herausgeber: Frankfurter Verlagsanstalt
veröffentlicht: 2016-05-09T22:00:00+00:00


10

Es ist der zweiundzwanzigste April, ein Mittwoch, die Luft am Abend noch warm genug für ein Essen im Freien, er und die Frau, die er kaum kennt, aber schon nicht mehr verlieren will: Beim Anzünden einer Zigarette wurde ihm das fast im Takt der Herzschläge klar, das Datum, der Tag, die Wärme, sein Zu-zweit-Sein und mit wem, während ihn das Mädchen im Fetzenkleid weiter ansah, ein Blick aus schmalen Augen, zwischen den Brauen kleine ältliche Falten, also war es wohl schon zwölf, wenn nicht dreizehn. Ihn allein sah es an, als stünde er hier auch allein an dem Brunnen, ein Alleinreisender abends auf dem Domplatz von Catania, und der Blick, der war nicht kindlich, er war verschlagen – ein Wort, das sich aufdrängte, wie das Mädchen sich aufdrängte, die offene Hand jetzt vor und zurück bewegte, darin das Einzige, das sie anbieten konnte, ihr eigenes Kettchen mit einer Scherbe daran, oder war’s ein Stück Metall, bunt bemalt, für Halsschmuck vielleicht etwas scharfkantig, so genau ließ sich das im Abenddämmer nicht sehen. Was geben wir ihr?

Reither wandte sich zur Seite, aber seine Begleiterin war um den Brunnen gegangen, als hätte sie nichts bemerkt von dem Mädchen; sie sah zu dem kleinen schwarzen Elefanten auf der Säule inmitten des Brunnens, und er griff in die Taschen und suchte nach Münzen, während das Mädchen den Scherbenanhänger jetzt pendeln ließ, ein stummes Locken, und ihr Blick aus den schmalen Augen auf seiner Hose lag, einer Beule dort von der suchenden Hand. Wie viel also sollte er geben? Das Kettchen samt Anhänger war nichts wert, eine rührende Bastelei, weder schön noch von besonderem Material. Kleine, behalte es, sagte er, auch wenn die Kleine ihn nicht verstand, ja nicht einmal körperlich klein war oder in anderer Form noch kindlich, eher abgefeimt, mit dem Gebaren einer Streunerin, und womöglich auch noch älter als gedacht – aber wer kann das schon sagen, wenn er nie eine Tochter hatte. Reither sah über das Mädchen hinweg, über dunkles, in der Mitte gescheiteltes Haar; Münzen fühlte er keine in den Taschen, nur einen Schein, aber welchen? Er trat die Zigarette aus, und als er den Kopf wieder hob, sah er die Frau, die ihn aus der Aprilkälte des Weissachtals bis in die Milde von Sizilien gebracht hatte, und rief ihren Namen, Leonie, rief er, einmal, zweimal, doch sie hörte ihn nicht, weil das Domgeläut angefangen hatte, und er machte eine Faust um den Schein in der Hosentasche.

Das Mädchen, immer noch ihre wertlose Ware in der Hand, zeigte schon Zeichen von Ungeduld, wenn es Ungeduld war; es hätte auch Angst sein können, die Angst, mit ihrer Tour aufzufallen und verjagt zu werden von Carabinieri, die am Rande des Platzes neben schweren Motorrädern standen, und damit die Sorge, es an dem Abend auch nicht mehr zu schaffen, Geld für etwas Essen zu bekommen, den eigenen Hunger zu stillen und gar noch den von Geschwistern, ihn vor dem Schlafen in einem Verschlag doch wenigstens zu lindern, sich Brot in den Mund zu stopfen oder Süßkram, zuletzt sogar die Finger abzulecken und den Daumen im Mund zu behalten, wer weiß.



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